AUF DER SUCHE NACH DEM FRÜHLING 

Blütezeiten verschieben sich nach vorne, der Sommer wird immer heißer, und manchmal tragen Bäume und Pflanzen im Herbst Knospen: Der Klimawandel ist längst angekommen. Die vier Jahreszeiten? Schon lange nicht mehr das, was sie einmal waren. Müssen wir unseren Jahreskreislauf neu schreiben? Und was bedeutet das für Flora und Fauna?  Plus: Sounddesigner Richard Eigner hat für das WALD Magazin einen Frühlingssound gebastelt. Hier reinhören.

Fruehling Aufmacher

Caren-Veronika Hanreich steht auf einer Waldlichtung Schlosspark Eckartsaus, sie hat Kopfhörer auf den Ohren – und sie macht erst mal nichts. Wobei: so ganz stimmt das nicht. Hanreich rührt sich zwar nicht und bewegt sich nicht, in ihrer Hand hält sie aber ein Parabolmikrofon – und das funktioniert wie ein Fernglas für die Ohren. Selbst weit entfernte Geräusche hört sie damit, das Ti-Ta Ti-Ta Ti-Ta der Blaumeise über ihrem Kopf, das Kra-Kra-Kra der Kolkraben in der weit entfernten Baumkrone und sogar den Grünspecht, der irgendwo ganz beschäftigt klopft, dabei ist er gar nicht mit der Nahrungssuche beschäftigt, sondern möchte Weibchen anlocken. Woher Hanreich das weiß? Sie erkennt die unterschiedlichen Klopfgeräusche. 

Caren-Veronika Hanreich ist nicht nur Biologin bei den Österreichischen Bundesforsten, sondern auch Bioakustikerin. Das heißt, sie beschäftigt sich mit den Geräuschen von Ökosystemen – und diese sind durchaus wesentlich. Über die Geräusche kann man feststellen, wie gesund ein Lebensraum ist oder wie es um die Biodiversität in einer Region steht. Und all das wirkt sich auch auf die Menschen aus, sagt Hanreich: „Wir wissen, dass uns das Grün der Blätter guttut, wie beruhigend und ausgleichend die Duftstoffe der Bäume auf uns wirken. Aber wir ahnen gar nicht, wie stark der Einfluss der Bioakustik auf unser Unterbewusstsein ist.“ Schon ein paar Minuten Waldbaden reichen, um unseren Puls zu senken und unser vegetatives Nervensystem zu beruhigen – der Effekt tritt sogar ein, wenn wir das Rauschen eines Waldes oder das Konzert von Singvögeln als Spotify-Track in der U-Bahn konsumieren. 

Bei Hanreich ist das eher umgekehrt: Bei ihr sorgt das, was sie im Wald hört, für steigenden Puls und innere Unruhe. „Indem wir den Soundscope eines ausgewählten Ökosystems überwachen, können wir ein Bauchgefühl, das uns schon eine Weile beschäftigt, mit Daten untermauern“, sagt sie. Und was ist ihr Bauchgefühl? „Dass der Frühling immer stiller wird.“

Und das ist leider wirklich so. Schon seit einiger Zeit stellen es die Forscher:innen fest. Der Frühling wird leiser, weil es immer weniger Singvögel gibt. Egal, ob Amseln oder Lerchen, ob Meisen oder Buchfinken: Die Populationen werden immer kleiner, und das merkt man vor allem im Frühling. Zumindest alle, die mit offenen Ohren durch die Natur gehen und dort einst vertraute Melodien vermissen. 

Saftrauschen web
Das Saftrauschen. Wer genau hinhört, hört nicht nur das Rascheln der Blätter. Das Mikrofon funktioniert ein bisschen wie ein Stethoskop. Damit hört man die Geräusche, die der Baum macht, wenn er mit seinen Wurzeln Flüssigkeit aus dem Boden zieht. Besonders gut zu hören ist der Vorgang nach Niederschlägen.
Fledermaus web
Die Fledermaus. Nicht das Schlossgespenst, sondern Mausohrfledermäuse bewohnen den Dachboden von Schloss Eckartsau. Sie fühlen sich am wohlsten, wenn sie ungestört sind. Einmal im Jahr bekommen sie jedoch Besuch von Caren-Veronika Hanreich und ihren Kolleg:innen: Sie zählen dann die Fledermäuse. Die Soziallaute sind übrigens für Menschen hörbar – ganz ohne speziellen Bat-Detektor.

 

Den jubelnden Gesang der Feldlerche zum Beispiel (laut dem Naturschutzbund NABU minus 55 Prozent seit 1980), das „Kut Kut Kut“ des Rebhuhns (minus 90 Prozent) oder das charakteristische „Zr-r-rilitt“ des Girlitz. „Der war früher am Waldrand und in vielen Gärten Dauergast und hat heute 80 Prozent seiner Population verloren“, sagt der Wildtierbiologe Robin Sandfort, der mit seinen Unternehmen capreolus und micromacro Systeme für wissensbasiertes Biodiversitätsmonitoring entwickelt: „Weil der Artenverlust aber so unauffällig-schleichend vorangeht, fällt das dem Großteil der Menschen gar nicht auf. Manche Arten verschaffen sich ja immer noch lautstark Gehör, das Rotkehlchen zum Beispiel. Aber insgesamt nimmt die Vielfalt der Gesänge ab.“ Wie die meisten menschgemachten Umweltkatastrophen ist auch diese nicht ganz überraschend über uns hereingebrochen. „Wenn der Frühling naht, wird er (…) in immer größeren Gebieten nicht mehr von seinen Vorboten, den zurückkehrenden Vögeln, angekündigt“, schrieb die US-amerikanische Biologin Rachel Carson bereits 1962 in ihrem Standardwerk „Der stumme Frühling“. „Die gefiederten Sänger sind je verstummt, Schönheit, Farbe und der eigene Reiz, die sie unserer Welt verleihen, sind ausgelöscht.“ Carson leistete Pionierarbeit für die Aufklärung über das Artensterben. Auch die Ächtung des damals noch weit verbreiteten Schädlingsbekämpfungsmittels DTT ist ihrem Engagement zu verdanken. Das Artensterben ging aber trotzdem heiter weiter. „Die größten Rückgänge sehen wir auf den landwirtschaftlichen Flächen, der Artenrückgang ist aber auch in unseren Wäldern deutlich messbar“, sagt Robin Sandfort. 

Wie aber erfasst man, wie viele und welche Vogelarten unsere Wälder bevölkern? Und, noch schwieriger, wie viele und welche nicht mehr? Zum Beispiel mit Caren-Veronika Hanreichs Spähikel. Das rollende Labor, mit dem sie neugierigen Naturfreund:innen die verborgene Welt der Bioakustik zugänglich macht, dient nicht nur der Wissensvermittlung. Es ist auch eine Forschungsstation. Die Biophonie des Waldes – also die Gesamtheit der von Lebewesen erzeugten Geräuschkulisse – ist nämlich eine fantastisch aussagekräftige Datenquelle für die Wissenschaft. 

Im Grunde war das schon immer so: Generationen wetterfester Student:innen erhoben mit Strichlisten Vogelbestände, Heerscharen erfahrener Ornitholog:innen folgten dem Gesang von Stieglitz und Wachtelkönig durchs Dickicht. Ihr Einsatz ermöglichte der Wissenschaft einen soliden Überblick über den Ist-Zustand und die Entwicklung der Habitate. So fanden die Ornitholog:innen zum Beispiel heraus, dass die Singvögel während der Lockdown-Zeit leiser und melodiöser sangen als sonst – sie mussten nicht mehr so viel Umweltlärm übertönen, wie wir ihnen sonst zumuten.

Doch seit die KI mithilft, explodieren nicht nur Menge und Qualität der erhobenen Daten. Wir können sie auch zielgerichteter vernetzen und schlauere Schlüsse daraus ziehen. Caren-Veronika Hanreich tut das, indem sie im Wald streichholzschachtelgroße, batteriebetriebene Raspberry Pi-Rekorder aufhängt, die ein paar Wochen lang rund um die Uhr Waldgeräusche aufnehmen. Das Abhören erledigt danach kein:e arme:r Praktikant:in, sondern eine Künstliche Intelligenz der Technischen Universität Chemnitz. Die Open-Source-Software erkennt und dokumentiert automatisch die aufgenommenen Vogelarten – und verpasst auch nicht den nächtlichen Überflug eines Kranichs oder den Ruf der Nachtigall um fünf Uhr morgens, der einem menschlichen Beobachter vielleicht entgangen wäre. Weil die Chemnitzer die Daten ihrer KI öffentlich zur Verfügung stellen, ist damit aber noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Robin Sandfort etwa hat das Basismodell zusammen mit seinem Team so trainiert, dass es nicht nur einzelne Spezies unterscheiden kann, sondern sogar einzelne Individuen: „Vögel haben unterschiedliche Dialekte, ein Stieglitz aus Polen singt anders als einer aus Südtirol. Das kann uns in Zukunft helfen, Populationen genauer zu erfassen oder Zugrouten präziser nachzuvollziehen – auch, weil die Daten absolut verlässlich sind, denn anders als bei generativer KI halluziniert das Modell nicht.“

Vogel web
Hier wohnt die Amsel. Die Amsel ist im Frühling sehr oft zu hören, sie ist quasi eines der Signature-Exemplare unter den einheimischen Vögeln: Sie singt von früh bis spät. Das macht sie nicht, weil sie sich selbst so gerne singen hört oder es ihr besonderen Spaß macht. Amseln zwitschern, um sich gegenseitig vor Gefahren zu warnen.
Unke web
Die Rotbauchunke liebt warme und flache Gewässer. Deshalb fühlt sie sich in den Teichen und Tümpeln im Schlosspark von Eckartsau wohl. Im April hört man sie singen. Ja, singen. Wenn man genau hinhört, klingt ihr Pfeifen fast wie ein fernes Echo. Oder wie erste Versuche auf der Blockflöte.

 

Die einfache Einstiegsversion dieser KI kann jeder und jede von uns am eigenen Smartphone installieren. Die Birdnet-App registriert automatisch Vogelstimmen und ordnet sie mit einer Wahrscheinlichkeitsschätzung („Zu 96 Prozent eine Blaumeise“) einer Vogelart zu. Menschliche Laute werden aus Datenschutzgründen nicht aufgenommen. Wer sich als Citizen Scientist betätigen möchte, kann seine Vogelstimmen-Aufnahmen abhören, kontrollieren und bestätigen – das hilft der KI beim Training und macht das sekündlich aktualisierte Netz europaweiter Erhebungen ständig dichter (Stand zu Redaktionsschluss: 193 nachgewiesene Spezies an 834 Standorten). Weil schon die Basis-App so gute Daten liefert, lässt Caren-Veronika Hanreich sie sogar während der Büroarbeit mitlaufen: Ein aus dem Fenster baumelndes Richtmikro erhebt permanent Daten vom Standort Eckartsau – und erstellt ganz nebenbei die Hitparade der aktivsten Frühlingssänger im Schlosspark (April 2024: Stieglitz vor Hausrotschwanz, Girlitz, Grünspecht und Amsel). 

Wie die Veränderung (und Verarmung) unserer Umwelt voranschreitet, lässt sich aber nicht nur an den Vogelstimmen ablesen. „Wenn man aufmerksam hinhört, lassen sich aus der gesamten Ökoakustik Schlüsse ziehen“, so Hanreich. Bei unserer Wanderung durch die Au findet sie viele Beispiele. Die Eiche am Rand der Waldlichtung, zum Beispiel: Die ist eigentlich alles andere als still. Mit einer Art Stethoskop öffnet Hanreich das Ohr zu einer unbekannten Klangwelt: Im Eichenstamm rauschen die von den Wurzeln zu den frischen Knospen gepumpten Pflanzensäfte wie ein Gebirgsbach voller Schmelzwasser, unter der Rinde krabbelt und nagt ein ganzer Ameisenstaat vor sich hin. „Ein vom Klimawandel gestresster Baum kann von außen noch ganz normal aussehen, aber bereits einen stockenden Saftfluss haben – so ähnlich wie ein Mensch mit Thrombosen, der kurz vorm Herzinfarkt steht.“ 

Ein wenige Zentimeter in den Waldboden gestocherter Sensor gibt Aufschluss über den Zustand der unterirdischen Mikroorganismen. Hier im Wald scheint noch alles in Ordnung zu sein: Über Kopfhörer können wir zuhören, wie sich Asseln, Käfer und Raupen satt fressen. Draußen, auf intensiv bewirtschafteten Feldern, könne man aber hören, wie „kaputt unsere Böden bereits sind“, sagt Hanreich. Immerhin gibt der scheinbar ganz geräuschlos vor sich hin träumende Donaualtarm akustisch Grund zur Hoffnung: Morgens quakt jetzt nämlich nicht nur der Moorfrosch zwischen den Rohrkolben hervor. Unter Wasser führen auch die Hundsfische mit Knurrlauten rege Diskussionen. Die kann man aber nur nachts belauschen, tagsüber sorgt die Photosynthese der Unterwasserpflanzen für blubbernde Dauerbeschallung. Ein für uns unhörbar rauschender Whirlpool, lauter als jedes vernünftige Fischgespräch. 

Als auf dem Rückweg zum Schloss die Dämmerung einsetzt, erwachen auch die Fledermäuse. Die Biologin dokumentiert ihr Treiben mit einem sogenannten Bat-Detektor. Der „übersetzt“ – wiederum mit KI – die für uns unhörbare Ultraschall-Echoortung und spielt das Morsecode-artige Stakkato in extrem verlangsamter Geschwindigkeit ab. Die erste Überraschung: Nun klingen Fledermäuse ein wenig wie Singvögel. Die zweite: Auch jede Fledermausart hat ihren eigenen Sound. „So können wir – mit der gleichen Methode wie bei den Vögeln – erheben, welche Arten am aktivsten sind und welche aus ihren Habitaten verschwinden.“ In ganz Österreich wurden bisher 28 Fledermausarten nachgewiesen. Sie lehnen sich tapfer mit ihrem nächtlichen Radau gegen den immer stiller werdenden Frühling auf. „Wir haben Glück, dass unsere Ohren die Fledermaus-Rufe nur mit Hilfe des Bat-Detektors hören können“, sagt Caren-­Veronika Hanreich. „Sonst würden wir nachts kein Auge zutun.“

Stockente web
Die Stockente ist nicht nur im Frühling zu hören. Sie hält sich das ganze Jahr über an und in den heimischen Gewässern auf. Vor allem Stockenten-Weibchen haben eine Menge zu sagen: Das laute Quakgeräusch kommt von ihnen. Das Quaken der männlichen Stockente klingt etwas gedämpfter und leiser. Dafür ist ihr Federkleid auffälliger. Sie sind an ihrem charakteristischen grünen Kopf zu erkennen.
Spaehikel web
Das Spähikel ist Ort der Wissensvermittlung und Forschung zugleich. Hier können Wissbegierige alles über die Natur und ihre Geräusche lernen.

 

Alexander Lisetz

ist seit dieser Recherche nicht mehr so gut erreichbar. Weil er sein Smartphone fast nur mehr zum Aufnehmen von Vogelstimmen verwendet.

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