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Martina Bachler
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Craig Dillon

Essay

Grün ist das Leben

Keine Farbe liegt derzeit so im Trend wie Grün. Das liegt an unserer Sehnsucht nach der Natur, aber längst nicht nur. Ein paar Anmerkungen, die wirklich nicht nur Künstler und Künstlerinnen lesen sollten.

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Es fängt immer ganz langsam an. Mit ein paar einsamen Halmen, ein paar Blumentrieben, die sich aus der Laubdecke wagen, mit ein paar zarten Knospen, die sich an den Bäumen bilden. Dann geht es oft rasend schnell. Wo der Boden vor Wochen noch braun und grau war, sprießt jetzt grünes Gras in weichen Büscheln. Wo der Blick durch Astgitter viel zu oft auf den Hoch­nebel fiel, kommen jetzt in den Bäumen die Blätter zurück. Es reichen ein paar warme Tage und um uns herum wird alles wieder bunter, lebendiger, freundlicher. Sofort wirkt die Welt wieder voll­ständiger, wie ein Film, zu dem man endlich auch den Ton eingeschaltet hat. Sofort fühlen sich viele Menschen um einiges wohler.

Und der Grund dafür ist: Grün.

Grün, das ist für ziemlich viele Men­schen die Lieblingsfarbe, und das hat weder mit einer Partei noch mit einer als Religion getarnten Fußballmannschaft zu tun. Und selbst wer Blau oder Rot noch lieber mag, hat gegen Grün meist sehr wenig einzuwenden. Denn wer findet wirklich scheußlich, was er sieht, wenn er in diesen Tagen aus dem Fenster schaut? Wen nerven die Wiesen und Wälder, die Parks und die Felder? Sie zeigen das wieder erwachte, putz­muntere Leben. Und dieses ist grün. Vielleicht leuchtet es in der Pandemie sogar noch heller.

„Grün ist interessanterweise rund um die Welt beliebt, aber nicht überall wer­den damit die exakt gleichen Emotionen verbunden“, sagt der deutsche Psycho­loge Daniel Oberfeld-Twistel. Er forscht an der Universität Mainz zum Thema Farbpsychologie. Im Vorjahr arbeitete er an einer weltweiten Studie mit, die den Einfluss der Farbgebung auf den Ge­mütszustand der Menschen untersucht hat. Grün weckt der Studie zufolge vor allem so etwas wie Zufriedenheit. Deut­sche verbinden mit Grün zudem das Ge­fühl der Freude, im Iran und in Saudi­ Arabien kommt auch noch Erleichte­rung dazu. „Die Reaktion in Frankreich
ist hingegen eindeutig schwächer als in anderen Ländern, hier ruft es einfach nur ein gewisses Interesse hervor“, sagt Oberfeld­-Twistel.

Warum das so ist, kann der Farbpsy­chologe nicht mit Forschungsergebnis­sen belegen, nicht für Frankreich und auch nicht für die anderen Länder. Aber darüber spekulieren lässt es sich schon: Oft geht es dabei um persönli­che Erfahrungen und Beobachtungen, oft um kulturelle Einflüsse, und über die Zeit kommt sowieso beides zusam­men. Im Iran und in Saudi­ Arabien liegt es vielleicht an der Religion: Grün, das ist die Farbe Mohammeds. In der Alpenregion hat es vielleicht mit dem Klima zu tun. Sobald es draußen grün wurde, hatte man wieder einen kalten, dunklen Winter mehr überstanden.

Jahrtausendelang sorgte das für Er­leichterung. Und deswegen steht bei uns die Farbe Grün eben für Draußen­ sein, den Wald und die Natur, die fri­sche Luft und das Leben.

Nicht umsonst haben sich während der Pandemie noch mehr Menschen um noch mehr Zimmerpflanzen gekümmert, und nicht ohne Grund kommt auch kein Stylingblog momentan ohne grüne Wände oder grüne Möbel aus. „Für wohlige Frische“ soll das sorgen, für „die Kraft und Harmonie der Natur“ oder für „Entspannung und Erholung“. Wobei diese Effekte vermutlich über­schätzt werden, sagt Oberfeld­-Twistel.

In einer anderen Studie zeigte der Psychologe gemeinsam mit Kollegen, dass die Wandfarbe sich zum Beispiel nicht auf die Leistungsfähigkeit von Menschen auswirkt, selbst wenn das Inneneinrichter gerne behaupten. „Die Farbe selbst kann Emotionen hervorru­fen, aber sobald man sich auf eine Auf­gabe konzentriert, spielte sie – zumin­dest in unserer Studie – keine Rolle“, sagt der Psychologe.

Nichtsdestotrotz wird Grün sehr bewusst eingesetzt, weil es ja nicht nur Emotionen vermittelt, sondern auch Informationen. Heute steht es sogar für eine gewisse Haltung. In den vergangenen 50 Jahren ist es zur Farbe des Umweltschutzes geworden. Es haben sich Parteien nach ihr benannt, und wenn man im Supermarkt zu etwas greift, das mit grüner Schrift gestaltet ist, geht man fast automatisch davon aus, dass es nachhaltig und bio ist.

Grün ist aber auch die Ampel, die uns sagt, dass wir weitergehen können, grüne Häkchen vermitteln, wenn wir etwas richtig gemacht haben, und der Pass, den die EU für all jene entwickeln will, die sich gegen Covid­19 impfen lassen, soll, genau, grün sein. Grün soll also sa­gen: Alles richtig gemacht, es kann jetzt weitergehen, wer Grün sieht, der ist auf dem richtigen Weg unterwegs. Grün ist die Hoffnung, so viel Gedichtinterpreta­tion haben selbst wenig Poesiebegabte drauf, und auch das speist sich aus der Natur: Die Farbe der Pflanzen steht auch für Heilung und Gesundheit, in vielen Ländern erkennt man Apotheken an ei­nem grünen Kreuz. Ein grünes, vierblättriges Kleeblatt bringt außerdem Glück. Und dann ist Grün fast rund um die Welt, vor allem im Frühling, auch noch ein Synonym für eine Jugend, die vielleicht noch nicht so ganz sattelfest, aber gerade in der Blüte ihrer Jahre ist: Wer „noch etwas grün hinter den Ohren ist“, hat einen gewissen Reifegrad offen­bar noch nicht erreicht.

„Bei Grün spielt der Lauf der Natur eine wahnsinnig große Rolle, aber ganz generell haben Farben im Lauf der Jahr­ hunderte ganz unterschiedliche Bedeu­tungen angenommen“, sagt Marion Elias. Die Künstlerin und Philosophin lehrt an der Universität für angewandte Kunst in Wien unter anderem die Ästhetik der Farben. Sie bringt Studie­renden bei, dass der sehr freie Umgang mit Farben und deren technische Quali­tät ziemlich neue Errungenschaften sind, dass wir lange von einer gewissen Ordnung der Farben sprachen und auch Farben Ordnung in der Gesellschaft schufen. „Grün war gar nicht so natürlich und positiv besetzt wie heute“, sagt Elias. „Es gab auch sehr lange wirklich nur sehr scheußliche grüne Farben, die aus natürlichen Pigmenten gewonnen wurden.“ Sie selbst kann sich in ihren Arbeiten auch heute noch nicht damit anfreunden: „Grün, das passt bei mir einfach nie.“ Aber egal, wohin man heu­te blicke, sei die Sehnsucht nach Grün im Alltag groß. „So positiv war Grün nicht immer besetzt“, sagt Marion Elias. Das hat zum Beispiel mit dem Tod von Napoleon Bonaparte zu tun. Kurz nachdem er am 21. Mai 1821 auf St. Helena gestorben war, kursierten die wildesten Spekulationen über seinen Tod. Eine davon: Die grünen Wände waren schuld. Um das zu erklären, muss man etwas weiter ausholen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Grün enorm in Mode. Der schwedische Apotheker Carl Wilhelm Scheele hat 1776 bei einem kleinen Experiment mit Arsen, Arsenik­säure und Kupfer bemerkt, dass dabei ein grünes Pigment entsteht, so hell und üppig, wie es noch kein anderes zuvor gegeben hatte. Das Scheele-­Grün war das erste, das knallte, nicht verblasste und endlich auch leistbar war.

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Schnell machte es Karriere. Die Farbe wurde in die Welt hinaus­ getragen, auch an den französischen Hof, von den Vorhängen bis zur Abendgarderobe erstrahlte dort alles in Grün. Napoleons Zimmer auf St. Helena erhielt modische grüne Tapeten. Doch dann mehrten sich die Meldungen, dass immer mehr Menschen erkrankten, die mit diesem Arsen­-Grün in Berührung gekommen waren. War vielleicht auch Napoleon daran gestorben?

Heute wissen wir, dass das nicht so war. Aber die Franzosen sind immer noch skeptisch. Auch in englischspra­chigen Ländern gab es lange den Aber­glauben, dass Schauspieler keine grüne Kleidung tragen sollen, weil giftiges Grün in ihrer Kleidung einigen nicht nur auf der Bühne den Heldentod eingebracht haben soll. Von der Theaterbühne aus ist auch ganz eine andere Verbin­dung zu Grün entstanden: Seit Shakespeare 1604 zum ersten Mal sei­nen Othello aufführen ließ, wurde „grün vor Neid“ zum geflügelten Wort. Ohne dass wirklich gänzlich geklärt wurde, wo diese Wendung herkommt.

Der französische Historiker Michel Pastoureau nennt Grün, das heute so positiv gesehen wird, eine sehr „reiche und widersprüchliche“ Farbe. Pastou­reau arbeitet seit Jahrzehnten an einer Kulturgeschichte der Farben. Quer durch die Epochen zeigt sich dabei, dass die Geschichte der Farben nicht nur eine Geschichte der Pigmente und Nuancen ist, sondern auch eine der Chemie und nicht zuletzt eine der Machtverhältnisse. Über Jahrhunderte war zum Beispiel recht streng geregelt, wer überhaupt wel­che Farbe tragen durfte. Während Bauern und Arbeiter meist beiges Leinen und braune Wolle trugen, war Grün im Mittelalter die Farbe der Händler, Bürger und Bankiers. Das üppige und teure Rot hingegen war wie das Blau dem Adel vorbehalten. Auch deshalb vermieden es viele Künstler, Grün einfach aus Gelb und Blau zu mischen, wie es die Farben­lehre eigentlich vorgeben würde.

„Die Klassifizierung ist die erste sozi­ale Aufgabe der Farben“, schreibt Pastoureau. Schon im alten Rom gab es solche Regeln: Grün und Blau galten als „barbarische Farben“, so Pastoureau, als die Farben der Germanen. Und das, obwohl in „viridis“, dem lateinischen Wort für Grün, die gleiche Wurzel steckt wie in „vis“ (Kraft), „ver“ (Frühling) und vielleicht sogar „virtus“ (Stärke). Die Römer mochten die Germanen nicht und das war’s dann auch für Grün. Zumin­dest temporär.

Im Frühmittelalter hingegen war al­les Grüne plötzlich beliebt. Die Göttin Minne, der der Minnesang gewidmet war, trug in vielen Darstellungen grüne Kleider. Was früher und anderswo für die Barbaren stand, war plötzlich die Farbe der jungen Liebe, der Ungeduld und der Unbeständigkeit des Fleisches, schreibt Pastoureau. „Es war oft eine fri­vole, sich wandelnde Farbe, verbunden mit der Jugend an sich. Heranwachsende in Adelshäusern trugen Grün, Frauen, die im heiratsfähigen Alter waren, zu­mindest grüne Kleidungsteile“, schreibt Pastoureau. Der Mai war ihr Monat und das Maibaumaufstellen der Brauch, mit dem sie die junge, grüne Liebe feierten.

Wie die Liebe kommt und geht also auch die Beliebtheit von Grün. Mit der Romantik flackert sie wieder auf, mit der Moderne kühlt sie wieder ab. Zwischen­durch treibt sie erstaunliche Blüten, etwa dass in den Parks vieler europäischer Städte seit dem 19. Jahrhundert nicht nur die Pflanzen grün sind, sondern auch die Bänke und Mistkübel, schreibt Pastoureau.

Auf diesen lässt sich gut beobachten, wie es nun eine weitere Saison erlebt: das satte, laute, helle, wache, aufmunternde Grün des Frühlings.

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Martina Bachler
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