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Miriam Reichel
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Craig Dillon

Kunst

Ohne Titel I – VII

Die Parasiten – seit Tausenden von Jahren lebt und arbeitet dieses höchst provokante Künstlerkollektiv in Österreichs Wäldern. Mit einfachsten Mitteln bearbeiten sie ihren Werkstoff, das Holz. Anlässlich der Viennafair 2012 präsentieren wir eine Werkschau.

WALD Parasite art 46416

Ohne Titel, 2010, Buchdrucker (Ips typographus), Mundwerkzeug auf Fichte, 150 x 280 mm

camponotus herculeanus
pityogenes chalcographus
WALD Parasite art 46419

BILD 1: Ohne Titel, 2010, Schwarze Rossameise (Camponotus herculeanus) Mundwerkzeug auf Nadelholz, 168 x 208 mm              BILD 2: Ohne Titel, 2010, Kupferstecher (Pityogenes chalcographus) Mundwerkzeug auf Kiefer, 168 x 208 mm                                  BILD 3: Ohne Titel, 2010, Dunkelschenkliger Kurzdeckenbock (Molorchus minor), Wimperbock (Pogonocherus sp.) & unbestimmter Borkenkäfer, Mundwerkzeug auf Fichte, 40 x 300 mm

Sie sind radikal, sie sind extravagant, sie sind umstritten. Ihre Werke verkörpern Hartnäckigkeit, ihr Stil ist eigenwillig: bizarr und natürlich. Sie provozieren, gestalten ihren Lebensraum um, passen ihn ihren Bedürfnissen an. Was sie antreibt, ist der Lebenswille, der Drang nach Reproduktion und Fortbestehen der Gattung. Durch ihre Lebensweise können Borkenkäfer, Holzameise und Co. die Gesundheit und das Wachstum eines Nutzwaldes stören. Sie nutzen Kulturpflanzen als Nahrungslieferanten oder Brutstätte und gestalten sie dabei nach ihren Anforderungen um. Als Nebenprodukt entstehen eigendynamische Kunstwerke unter der Borkenschicht der betroffenen Bäume. Mit ihren Mundwerkzeugen nagen sich die kleinen Künstler individuelle Höhlensysteme in Bast und Holz ihrer bevorzugten Baumart. Wie jeder Künstler, der sich im Laufe seiner Schaffensphasen auf bestimmte Materialien konzentriert, spezialisieren sich auch die Wald-Avantgardisten bei der Produktion ihrer kunstvollen Fraßbilder meist auf einige wenige Baumarten. Der Buchdrucker (Ips typographus) beispielsweise bevorzugt saftige Fichten, während der kleine Waldgärtner (Tomicus minor) Kiefernholz vorzieht. Einige Vertreter wie der karminrote Kapuzinerkäfer (Bostrichus capucinus) oder die große Holzbiene (Xylocopa violacea) leben und malen am liebsten in bereits totem Holz. An der Form und Größe der Erzeugnisse lässt sich der Schöpfer auch erkennen, wenn er sein Kunstwerk bereits verlassen hat. Die Form der Fraßgänge spiegelt dann die Größe der Larven, Puppen und erwachsenen Individuen wider und kann vom Wissenschaftler als Signatur des Künstlers gelesen werden.

Übersteigt die Insektenpopulation jedoch einen Schwellenwert, kann der Waldbestand geschädigt werden. Landläufig bezeichnet man viele der hartnäckigen Künstler deshalb als Forstschädlinge. In einem gesunden Wald kommen die meisten der Tiere als natürlicher Bestandteil des Ökosystems vor und können von diesem ertragen werden. Gefährlich für den Baumbestand werden sie, wenn es zur Massenvermehrung einer Population kommt und so ihr Nahrungs- und Materialbedarf steigt. Dann rücken Waldbesitzer wie die Bundesforste den Tieren zu Leibe. Die möglichen Ursachen dafür sind vielfältig. Wetterbedingte Einflüsse wie Sturm, Frost oder Trockenheit schwächen die Gesundheit des Baumes und machen ihn damit anfälliger. Und auch menschliche Eingriffe in den Lebensraum Wald spielen eine Rolle: Düngemittel und Schwermetalle schwächen das Ökosystem und beeinträchtigen seine Immunabwehr. Geschwächte oder kranke Bäume produzieren zudem Duftstoffe, die schädigende Insektenarten zusätzlich in großen Mengen anlocken können. Auch Monokulturen von Fraßbäumen und die Kultivierung standortfremder Baumarten können den Befall mit schädigenden Insekten begünstigen. 

ips typographus
callidium violaceum

BILD 1:, Ohne Titel, 2010, Buchdrucker (Ips typographus), Mundwerkzeug auf Fichte, 168 x 125 mm                                                          BILD 2: Ohne Titel, 2010, Blauvioletter Scheibenbock (Callidium violaceum), Mundwerkzeug auf Kiefer, 168 x 125 mm

Darüber hinaus wirkt sich auch die globale Erwärmung auf die Schädlingsanfälligkeit in Öster­reichs Wäldern aus. Je heißer und trockener der Frühling und Sommer, desto anfälliger sind die heimischen Baumarten für Schädlingsbefall. Eine längere Vegetationszeit und mildere Winter begünstigen den Zuwachs neuer Insektenarten. Schon bald könnten neue künstlerische Lebensentwürfe und Fraßbildmuster die heimische Szene aufmischen, die jetzigen Avantgardisten in den Schatten stellen. Die Kunstszene des Waldes befindet sich im Umbruch.

Ips Cembrae

Ohne Titel, 2010, Großer Lärchenborkenkäfer (Ips cembrae), Mundwerkzeug auf Lärche, 218 x 300 mm

Arrows black 02

Miriam Reichel
ist zwar Biologin, Insekten gehören jedoch nicht unbedingt zu ihren Lieblingstieren. In Mexiko musste sie sich einmal das Hostelbett mit einer Asselfamilie teilen. Geschlafen hat sie in dieser Nacht nicht. 

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