Trampelpfade – Wald 59
Herbst 2025
COVERPHOTO:Antonia Mayer

Ab durch die Mitte

Man kann die schönsten Wege anlegen, die man will: Am Ende werden wir trotzdem in die Abkürzung einbiegen. Warum trotten wir Menschen immer die Trampelpfade entlang? Eine Spurensuche im Gelände. 

Trampelpfade Ab durch die Mitte Wald 59 Herbst

Hinterm Steuer ein hoch konzentrierter Fahrer, der um die Fassung ringt. Die Reifen drehen sich so langsam, dass eine Schnecke überholen würde – wenn Platz wäre. Die Seitenspiegel sind eingeklappt. Rechts und links sind nur mehr sechs Zentimeter bis zur Mauer, dann nur mehr fünf, vier, drei Zentimeter, und dann ist klar: Nichts geht mehr. Außer circa 300 Meter zurück. Im Rückwärtsgang. Steil aufwärts. Mit null Spielraum. Der Fahrer klammert sich am Lenkrad fest, seine Frau versucht, nicht zu schreien, und sogar die Kinder auf der Rückbank schauen kurz vom Handy auf.
Verlässlich wie die Gelsen tauchen jeden Sommer Videos auf, in denen Touristen­autos in engen italienischen Gassen stecken. Die Fahrer haben sich auf ihre Navis verlassen, die Navis darauf, dass „Straße“ ein internationaler Begriff ist, der eine gewisse Mindestanforderung an die Fahrbahnbreite nicht unterschreitet. Dummerweise finden Italiener, dass es ausreicht, wenn man mit einem Dreirad Mineralwasserflaschen durch die mittelalterliche Altstadt transportieren kann. Und schon haben wir den Salat. Das Navi sucht den schnellsten, also den kürzesten Weg. Es nimmt die Abkürzung, pfeift auf die Ortsumfahrung und fährt einfach mitten durch. So lange, bis wirklich nichts mehr geht. Das Navi ist in solchen Fällen einfach ganz Mensch.

Denn es ist einfach so: Abkürzungen üben einen sehr seltsamen Reiz auf uns aus, sie haben etwas fast Unwiderstehliches an sich. Sobald wir sie erkennen, müssen wir ihnen folgen, es geht nicht anders. Das ist in den Einkaufsstraßen so, wenn wir uns zwischen Bänken durchzwängen, im Stadion, wenn wir über die Sitzreihen queren, und am Ende natürlich auch in der Natur. Mal ehrlich: Wer quält sich wirklich über alle Serpentinen nach oben, wenn da ein paar Meter vor der Kurve so ein kleiner Trampelpfad nach oben abzweigt? Es mag dann zwar steiler sein, aber eben auch – kürzer. 

Und nur das zählt.

Trampelpfade Ab durch die Mitte Wald 59 Herbst

Aber warum eigentlich? Denn mal abge­sehen davon, dass man als Wanderer aus vielen Gründen auf den ausgeschilderten Wegen bleiben sollte. Die eigene Sicherheit, die Ruhezonen von Tieren und der Schutz des Waldes sind nur ein paar davon: Es ist am Ende ja auch ein bisschen widersinnig. Man geht raus und wandert, weil man Zeit in der Natur verbringen will – und dann kürzt man ab, damit man möglichst wenig Zeit in der Natur verbringt und mehr auf der Schutzhütte sitzt. Logisch ist das nicht – und übertrieben smart auch nicht. Aber vielleicht genau deswegen sehr, sehr menschlich.

Wir kürzen ab, überall, immer und schon von Kindes­beinen an (was man in diesem Fall auch wirklich schreiben darf, ohne in Plattitüdenverdacht zu kommen): Wir leben eben in einer Welt, in der Zeit auch Geld ist und wir spätestens mit den letzten Sparpaketen erfahren haben, dass dieses nicht mehr endlos verfügbar ist. Zeit ist wertvoll, darum ist „gemeinsam Zeit verbringen“ für viele Menschen auch eine ernsthafte Weihnachtsgeschenksoption, und wenn sie dann auch nur gemeinsam ins Kino gehen, um möglichst wenig miteinander reden zu müssen. Wir optimieren – uns und alles rund um uns, die Firmen, die Häuser, die Beziehungen und auch unsere Körper, da liegt es nahe, dass wir auch unsere Wege opti­mieren, um bloß keine wertvollen Minuten liegenzulassen. Wofür auch immer wir diese dann einsetzen.

Aber schon seit Jahrtausenden sind Menschen auf der Suche nach den besten Wegen und schon immer hat dabei auch die Geschwindigkeit eine Rolle gespielt. Die besten Wege sind einerseits sicher, bringen uns aber auch möglichst schnell ans Ziel. Wobei die besten Wege deshalb nicht immer unbedingt die allerschnellsten sind.

Trampelpfade Ab durch die Mitte Wald 59 Herbst

Schon lange forschen Wissenschaftler:innen, wie unsere Wege entstehen, und das Spannende ist: Tiere und Menschen gehen dabei ganz ähnlich vor. Sie kämpfen sich meistens ziemlich gerade durch die Mitte, hinter­lassen Spuren, denen andere folgen, und wenn sich die Spuren bewähren, also keine großen Opfer den Weg säumen, dann wird daraus ein Pfad. Bei Wegen auf die Alm lässt sich oft nicht sagen, ob sie am Anfang von Menschen gefunden worden sind oder von Kühen, was auch daran liegt, dass meistens alle das gleiche Ziel haben. Diese Pfade wurden und werden dann von Jahr zu Jahr ausgetretener, je niedergetrampelter sie sind, desto besser, schließlich mögen wir alle ausgetretene Pfade am liebsten, und auch das ist nicht nur im übertragenen Sinn zu verstehen. Auf ausgetretenen Pfaden fühlen wir uns sicherer, darum schauen wir ja auch, bevor wir auf Urlaub fahren, Google-­Bewertungen an. Erlebnisse mit zu wenig Rezensionen interessieren uns häufig nicht – und das gilt auch für die Wege. Menschen sind einfach Herdentiere, selbst wenn sie das nicht immer sein wollen.

Dass wir uns sicher fühlen wollen, ist auch der Grund, warum die Wege, die wir selbst finden, zwar oft Abkürzungen sind, aber deshalb nicht insgesamt die schnellsten Verbindungen zwischen zwei Punkten. Mathematische Modelle würden ganz andere Pfade ausspucken als die, die über Jahrhunderte entstanden sind, weil Menschen und Tiere dort einfach gehen mussten. Selbst wenn das Ziel nur mehr wenige hundert Meter entfernt ist und wir es gut sehen können, gehen wir nicht wirklich die Ideallinie entlang und schnurstracks darauf zu. Unser Fuß sucht nach Sicherheit und nach Halt. Nur vier, fünf Meter nach vorne vertrauen wir unserem Blick wirklich. Und optimieren wir unseren Weg auch Abschnitt für Abschnitt. Wir gehen auf Sicht – und so entstehen auch unsere Wege. 

 

Die Seidenstraßen entstanden, weil über Tausende Kilometer entlang Menschen verschiedene Wege entwickelt haben. Der Broadway liegt heute dort, wo sich früher indianische Stämme ihre Wege gesucht haben. Über Jahrhunderte haben Menschen diese Entscheidungen getroffen – und zwar oft, ohne sich dabei miteinander abzustimmen. „Wo Menschen zusammenwirken, entsteht Selbstorganisation; das wirkt tatsächlich, als sei eine unsichtbare Hand im Spiel“, sagt Dirk Helbing, Professor für digitale Sozialwissenschaften an der ETH Zürich. Der Soziologe und Physiker erforscht unter anderem das Phänomen der Trampelpfade und wie sich Systeme selbst organisieren, spielt sowohl in der Gesellschaft als auch in der Physik eine große Rolle. „Ein Mensch hinterlässt eine Spur im Gelände, ein anderer folgt ihr, bis am Schluss ein hochkomplexes Wegesystem entstanden ist, ganz von selber. Die Systemtheorie nennt dieses Phänomen Emergenz“, sagte er in einem Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung. 

Helbing bedauert, dass dieses Phänomen in der Stadtplanung oft nicht berücksichtigt wird. Nur sehr selten haben Menschen den Freiraum, selbst neue Wege zu finden, die für sie funktionieren. Dafür wird es umso offensichtlicher, wenn sie es nicht tun. Man sieht es an den Trampelpfaden, die sich durch Parkflächen schieben, um zwei Wege schneller zu verbinden. Man sieht es an begrünten Zwischen­flächen im Straßenverkehr, die plötzlich von einem ausgetretenen Weg durchkreuzt werden, weil sie die schnellste Überquerungsstelle unterbrochen haben. 

Stadtplaner:innen können sie oft nicht verstehen. Landschaftsdesigner:innen reiben sich die Augen. Spezialist:innen für barocke Gärten bemängeln ein Verständnis für die strenge Gartenarchitektur früherer Jahrhunderte und lassen „Nicht betreten“-Schilder aufstellen. Es wirkt nur nichts.

Trampelpfade folgen einem bestimmten Muster. Sobald eine Gesamtstrecke 20 bis 30 Prozent länger wird, als sie eigentlich sein müsste, nehmen wir die Abkürzung. Selbst wenn der gesamte Weg nur zehn Meter lang ist, können wir diesem Drang nicht widerstehen. Und das ist vor allem für die Wegeerhalter ein gewisses Problem. Sie sind für die Sicherheit auf ihren Wegen verantwortlich, wenden wie die Österreichischen Bundesforste pro Jahr Hunderttausende Euro für die Wegesicherung auf, damit selbst bei schweren Stürmen Wanderer nicht von herabfallenden Ästen bedroht werden. Wenn die Wanderer dann nicht auf den ausgezeichneten – und geschützten – Wegen bleiben, kann das mitunter gefährlich werden. Aber was ist der offizielle Weg? Je ausgetretener die Pfade werden, desto schwieriger ist mitunter die Unterscheidung. Und das macht das Problem noch größer. Mal abgesehen davon, dass Trampelpfade oft auch durch Aufforstungsflächen gehen oder durch Ruhezonen von Tieren, wo Menschen einfach nichts verloren haben, ganz egal, wie sehr sie den Drang nach Abkürzungen verspüren.

Gerade diese Besucher:innenlenkung ist eine der schwierigeren Aufgaben für Naturraumbewirtschafter:innen. In vielen touristischen Regionen und auch in allen Nationalparks ist das ein Thema: Wie hält man die Menschen, die ein Interesse an der Natur haben, so im Zaum, dass sie sich nur auf den dafür vorgesehenen Wegen bewegen und nicht die Abkürzung nehmen? Die Antwort darauf ist eines der größeren Mysterien der Menschheit.

Weil sie eben in der Natur liegt.

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