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Benjamin Koffu
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Craig Dillon

Beobachtung

Im Rotwildviertel

Ein junger Hirsch aus den Donau-Auen hofft auf die Liebe, findet aber keinen Anschluss. In seiner Not entschliesst er sich zu einem Ausflug in die Slowakei. Und hat Erfolg.

Wald bei Nacht

Um ein Uhr nachts ist Hirsch B.* der Liebe schon sehr nahe. Stundenlang war er zuvor durch das Marchfeld gestreift. Er hatte die Fahrradbrücke bei Schloss Hof passiert, war weitergelaufen, am Dorf Markthof vorbei und noch weiter Richtung Nordosten. Erst vor kurzem hat B. die March durchwatet. Es ist der 3. September des Jahres 2015 und B. steht auf der slowakischen Seite des Auwalds. Er ist fast am Ziel. Die Liebe liegt bereits in der Luft, er kann sie fast schon riechen.

Aber warum muss er dafür hierher?

Hirsch B. kommt eigentlich aus den Donau-Auen bei Stopfenreuth, wo in diesen Tagen Hochbetrieb wäre. Ende August hat dort die Brunftzeit begonnen, für Hirsche aus Österreich gäbe es kaum einen besseren Ort. Vor allem nicht in diesem Sommer. Die Sonne scheint an den Ufern und auf den Auwiesen, die Nächte sind lau und überall sind Weibchen, um die die Auhirsche werben. Hier ist der Rotwildbestand groß und stabil. Insgesamt leben Schätzungen zufolge um die 1.200 Tiere zwischen der Lobau bei Wien und der Hainburger Au. Gut die Hälfte davon sind Weibchen. Ein starker Hirsch kann in den Brunftwochen gleich mehrere Hirschkühe „monopolisieren“ – der wildbiologisch korrekte Ausdruck für „aufreißen“ – und sich mit ihnen paaren. Und ein wirklich dominanter Platzhirsch bringt es pro Saison schon mal auf 30 Weibchen in seinem Brunftrudel. Wieso verlässt ein junger Hirsch dieses Spring Break für Rotwild und versucht 20 Kilometer weiter nordöstlich sein Glück?

„Im Grunde gerade deshalb, weil er ein junger Hirsch ist“, sagt der Wildbiologe Robin Sandfort. Er arbeitet an der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) an Forschungsprojekten, die Wildtiere mit elektronischen Mitteln beobachten – unter anderem auch Hirsch B. „Er dürfte um die sechs Jahre alt sein und noch keine Chance gegen Auhirsche haben, die voll im Saft stehen“, sagt Sandfort. Dabei bringt B. an die 200 Kilo auf die Waage. In den meisten Regionen Österreichs wäre er damit ein stattlicher Hirsch; in den Bergen sogar schon fast zu schwer. Unter den ausgewachsenen Auhirschen aber, die bis zu 300 Kilo schwer werden, ist B. ein Hänfling – und hat bei den Hirschkühen keine Chance. Während der Brunft messen sich die Männchen, um bei den Weibchen zu punkten. Sie röhren, stolzieren nebeneinander her und wenn es hart auf hart kommt, kämpfen sie. Dazwischen treiben die Hirsche Weibchen zusammen und versuchen sie von allen Nebenbuhlern fernzuhalten. Am Ende bekommt der Stärkste die meisten ab.

Für Hirsche wie B. gibt es daher eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Sie können warten, bis ein Platzhirsch gerade mit einer Hirschkuh beschäftigt, also unaufmerksam ist, und dann im unbewachten Harem wildern gehen. Oder, und das ist vielleicht ein bisschen einfacher: Sie ziehen weiter und suchen einen Ort, an dem es noch freie Weibchen gibt. Und genau das macht Hirsch B. Am 2. September um sieben Uhr abends zieht er aus den Donau-Auen los und wandert Richtung Slowakei. Auf der Höhe des österreichischen Baumgarten findet er einen Platz, der ihm gefällt. Seine Bewegungen werden weniger, er hält sich in einem Umkreis von wenigen hundert Metern auf, es kommt zum kleinen Grenzverkehr: Mal ist B. in Österreich, mal in der Slowakei, die March führt in diesen Tagen so wenig Wasser, dass er sie problemlos durchqueren kann. Und er bleibt in diesem Gebiet. Für Sandfort spricht das dafür, dass Hirsch B. versucht hat, weibliche Tiere zu beeindrucken. Und wahrscheinlich konnte er dort ein, zwei Weibchen für sich gewinnen und sich mit ihnen mehrfach paaren. Es ist auch gut möglich, dass er immer wieder versucht hat, an mehr Weibchen zu kommen. Die kleinen Exkursionen, die er jeden Tag macht, deuten darauf hin. „Nachdem die Brunft vorbei war, ist er wieder gegangen“, sagt der Biologe Sandfort. „Vier Wochen später gab es wohl keine Tiere mehr, die empfängnisbereit waren. Das merken Hirsche am Geruch.“ Als alles vorbei war, wanderte B. wieder Richtung Donau-Auen und kam am 5. Oktober an.

Das Bewegungsprofil von Hirsch B. ist so gut dokumentiert, weil er seit März 2015 ein Halsband mit GPS-Sender trägt, das alle 3 1/2 Stunden seinen Standort übermittelt. Die Koordinaten werden von Sandfort und Kollegen als Teil ihres Forschungsprojekts gesammelt und ausgewertet. Den Forschern der BOKU geht es eigentlich nicht darum, das Sexleben von Rotwild auszuspionieren. Oder besser gesagt: nicht nur. Hirsche kehren jedes Jahr zu den Brunftplätzen zurück, an denen sie schon einmal erfolgreich waren. Wenn sich dort aber die immer gleichen Hirsche mit den immer gleichen Weibchen paaren, schränkt das auf Dauer die genetische Vielfalt ein. Es ist also wichtig, dass einzelne Tiere loswandern und sich anderswo fortpflanzen. Denn mit den oft jungen Tieren wandern ihre Gene in neue Gegenden und durch den Austausch werden die folgenden Generationen stärker. Wird ein Hirsch in der Fremde Vater einer ganzen Menge Kälber, ist das gut für seine Art.

Durch die Daten, die Robin Sandfort und seine Kollegen bekommen und auswerten, können sie sehr genau einschätzen, wie gut der genetische Austausch zwischen Tieren in weiter entfernten Gebieten funktioniert. Und dazu müssen sie gar nicht unbedingt die Liebesreisen einzelner Tiere genau dokumentieren. Vielmehr können die Biologen aus den Daten ablesen, wie gut die Tiere sich in der Landschaft bewegen können, und so Antworten auf zentrale Fragen finden: Wie variiert das Verhalten zwischen Tag und Nacht? Wie reagieren die Tiere auf Störungen – zum Beispiel durch Freizeitnutzer oder Jagd? Und vor allem: Was machen Tiere, wenn sie auf menschgemachte Barrieren wie Straßen, Zäune und Siedlungen stoßen? Aus der Bewegung des Rotwilds können die Wissenschaftler ableiten, wo die Landschaft noch durchgängig ist. „Rotwild ist sehr empfindlich, was Störungen und Hindernisse angeht“, sagt Robin Sandfort, „es kann sehr weite Distanzen zurücklegen und deshalb sind Bewegungsdaten besonders aufschlussreich.“ Die Donau-Auen sind eine Schlüsselstelle im sogenannten Alpen-Karpaten-Korridor, einer Art Schnellstraße für die Gene vieler Wildtiere. Das Gebiet erstreckt sich von den Karpaten im Nordwesten der Slowakei über die March- und Donau-Auen, über das Leithagebirge, weiter in das Rosaliengebirge und die Bucklige Welt. Die Landschaft ist an vielen Stellen stark verbaut oder wird landwirtschaftlich genutzt.

„In den 1990er Jahren haben wir erstmals mögliche Wildtierkorridore in ganz Österreich erhoben, analysiert und dokumentiert und damit die Grundlagen für eine Lebensraumvernetzung über die Landesgrenzen hinaus geschaffen – damals Pionierarbeit“, sagt Fritz Völk, der heute bei den Österreichischen Bundesforsten für Jagd und Wildtiermanagement verantwortlich ist und damals am Institut für Wildbiologie an der BOKU arbeitete. Auf dieser Basis wurden in den vergangenen Jahren Grünbrücken, die den Wildwechsel etwa über Autobahnen ermöglichen, gebaut, an manchen Stellen gab es zum Schutz des Wilds Bebauungsstopps. Mit dem GPS-Projekt in den Donau- und March-Auen, das seit 2006 läuft, sollen weitere wichtige Daten dazukommen, die helfen, freie Bahn für Wildtiere zu schaffen. Die Bundesforste, die große Teile der Flächen in den Nationalpark Donau-Auen einbringen und dort für das Wildtiermanagement zuständig sind, arbeiten an dem Projekt mit. Bisher wurden 24 Tieren GPS-Halsbänder umgehängt – und das ist nicht gerade leicht, sagt Ernst Mayer, Bundesforste-Revierleiter in Stopfenreuth. „Das Wild hier lebt unter idealen Bedingungen und ist schwer zu ködern. Es gibt wenig Schnee und das ganze Jahr über ausreichend Nahrung“, so Mayer. „Wir können also nicht besonders wählerisch sein.“

ID74 Blumengang Hirsch Herbert Sabeditsch

Hirsch B. in den Donau-Auen, drei Tage vor seinem Aufbruch in den Osten. Die Aufnahme stammt von einer der Wildtierkameras beim Nationalpark.

Damit am Ende möglichst viele Tiere mit Sendern durch die Auen laufen, müssen einige Faktoren stimmen: Zunächst braucht es eine Sondergenehmigung, damit ausnahmsweise Futtertröge im Nationalpark aufgestellt werden dürfen. Dann positionieren Mayer und Kollegen ein ferngesteuertes Narkosegewehr in unmittelbarer Nähe des Futterplatzes. Und warten. „Man muss sehr geduldig sein“, sagt Ernst Mayer, „auch wenn ein Hirsch den Trog entdeckt hat, geht er nicht einfach hin, sondern dreht erst einmal ein paar Runden und vergewissert sich, dass keine Gefahr besteht.“ Und dann gibt es das Problem mit der Witterung: Das Gewehr muss erst mal eine Zeit lang stehen, damit die Tiere nicht merken, dass Menschen hier waren. Genau das Gleiche passiert bei ungünstigem Wind, bei dem das Wild mitbekommen könnte, dass Mayer und Kollegen in der Nähe darauf warten, den Abzug via Handy-App zu betätigen. Bei allen Besenderungen ist ein Tierarzt dabei, der aufpasst, dass die Dosierung des Narkosemittels stimmt. Auch der Pfeil hat einen Sender, damit ein getroffenes Tier nicht verloren geht, falls die Narkose zeitverzögert wirkt. Insgesamt haben die Männer eine gute Stunde Zeit, um das Halsband anzubringen, bevor das Tier wieder aufwacht. Hirsch B. ging Ernst Mayer am 25. März ins Netz. Und Mayer kann sich noch genau erinnern, als das Tier plötzlich aus den Donau-Auen verschwand: „Bis zur Brunft hat sich B. wenig bewegt und war nur in seinem Revier bei Stopfenreuth unterwegs. Zur Brunftzeit ist er dann zu einem beliebten Brunftplatz in der Gegend spaziert. Dass er dann über Nacht weg war und so weit gewandert ist, war überraschend.“ Aber er kam zurück. Auf fast dem gleichen Weg. „Rotwild hat ein sehr gutes Gedächtnis. Es ist auch gut möglich, dass der Hirsch, bevor er besendert wurde, schon einmal die Strecke gemacht hat und wusste, da oben ist was Interessantes“, sagt Wildbiologe Sandfort.

Wie viel Erfolg bei den Hirschkühen der March-Auen der junge Hirsch tatsächlich hatte, wird allerdings erst klar sein, wenn der Sender wieder bei den Forschern an der BOKU ist. Auf dem Gerät werden neben den GPS-Koordinaten noch weitere Daten gespeichert. Ein Sensor zeichnet genau auf, wann sich ein Tier wie intensiv bewegt. So können die Forscher feststellen, wann die Tiere schlafen, wann sie fressen, Junge bekommen oder eben in Sachen Liebe unterwegs sind. Eine Software stellt das Bewegungsprofil in Wellenlinien, ähnlich einer EKG-Messung, dar. An normalen Tagen im Leben eines Hirsches sieht das in etwa so aus: Morgens und abends werden die Wellen dichter, tagsüber sind sie luftiger. Je nachdem, wie intensiv die Bewegungen eines Tieres sind, ändern die Wellen auch ihre Farbe. Sie gehen zuerst ins Gelbliche, werden bei mehr Aktivität sattgelb, dann orange und wenn es aus irgendeinem Grund wirklich rund geht, schließlich rot. Und während der Brunftzeit, sagt Robin Sandfort, sei das Diagramm bei erfolgreichen Hirschen praktisch durchgehend rot.

Ob das bei Hirsch B. auch so ist, wird sich erst weisen. Denn das Halsband trägt er ein Leben lang, erst nach seinem Hinscheiden wird es ausgewertet. Sollte der Hirsch B. aber nächsten September wieder GPS-Signale aus der Slowakei senden, dürfte das Bewegungsdiagramm später wenig Überraschendes zeigen. Denn Hirsche haben ein gutes Gedächtnis.

Arrows black 02

Benjamin Koffu
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