Virtual by Nature
Sommer 2025
COVERPHOTO:Mark Pock

Virtual by Nature

Wie viel Natur braucht der Mensch, wenn er mitten in der Stadt sitzt? Immer mehr Apps und digitale Anwendungen bringen den Wald in die Stadt. Und das hilft gegen Alltagsstress, sagen sogar Mediziner:innen.

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Der Moment, in dem die Natur in unser Leben tritt, ist oft schon wirklich früh am Morgen. Bevor wir den ersten Schluck Kaffee getrunken haben, stehen wir dann auf irgendeinem Berg oder wandern durch einen Wald. Wir springen in den See oder stapfen durch eine Blumenwiese, wir sehen die Sonne aufgehen und hören die ersten Vögel im Unterholz. Wir sind nie lange vor Ort, ein paar Sekunden nur, dann wischen wir weiter, dort wartet schon das nächste Naturerlebnis, wisch, und noch eines, dann legen wir das Handy weg, meistens sehr beglückt und gut gelaunt, weil echte, unverfälschte Natur am frühen Morgen ist einfach immer großartig, und zwar egal, wie lang es dauert. Und dann drehen wir uns um und legen uns nochmals ein paar Minuten aufs Ohr. Oder wir stehen auf und kämpfen uns durch graue Gassen in irgendein Büro. Denn die Natur ist für viele von uns im realen Leben ganz weit entfernt. Wir leben in Städten, die aus Klimaschutzgründen zwar immer grüner werden, am Ende aber doch zu den allermeisten Teilen aus Stein, Beton und Asphalt bestehen. Grün sehen wir entweder in überkultivierten Parklandschaften, und auch dann nur von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, weil die Mitarbeiter:innen der Burghauptmannschaft in Wien ja auch mal Feierabend machen und Augarten oder Volksgarten zusperren wollen. Okay, es bleibt das Wochenende – aber unter der Woche?

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Worüber denkst du nach, wenn du im Wald bist?

Lisa: Eigentlich ist der Wald für mich ein Ort, wo ich über nichts nachdenke. Dort kann ich wirklich nur gehen, die Stimmung und Geräusche genießen und mal an nichts denken. Ich glaube, das ist wichtig, dass man da mal abschalten kann. Der Wald ist ein super Ort, um das so durchzuziehen. Ich merke, in dem Moment, wo ich unter den Bäumen stehe, dass sich mit der Temperatur auch mein Gemüt etwas zurückzieht, ich werde ruhiger.

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Wann warst du das letzte Mal im Wald?

Joe: Das ist schon länger her, einige Jahre. Ich bin ein Stadtmensch, da denkt man nicht so oft an den Wald. Ich hab nichts gegen ihn, aber ich hab ihn einfach nicht im Kopf. Vielleicht sollte ich das öfter tun, denn in der Natur zu sein ist eigentlich etwas sehr Schönes.

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Wo warst du zuletzt im Wald?

Victor: Ich komme aus Mexico City, ich bin ein richtiges Stadtkind, lebe aber schon sehr lange in Wien. Im Februar war ich in Mexiko im Huatulco Nationalpark, der ist wunderbar. Auch wenn man sehr viel herumfahren muss. Ich verbinde mit Wald nur positive Dinge. Ich war mein ganzes Leben mit der Natur verbunden. Klingt kitschig, es ist aber so. Es stört mich immer wieder, wenn ich in der Stadt bin.

„In meinem Alltag spielt der Wald nicht so eine große Rolle, weil ich im Office sitze und hier in der Stadt nicht wirklich viel davon sehe“, sagt Jasmin, eine 37-jährige Grafikdesignerin aus Wien. „Am Wochenende zieht’s mich dann aber raus in die Natur, und zwar sehr gerne. Sie spielt eine wichtige Rolle für mich, obwohl ich im Moment in Wien eher spazieren gehe – im Park.“ Wir sind im MuseumsQuartier, mitten in der Innenstadt, viel zentraler und urbaner geht es in Wien nicht. Das MuseumsQuartier ist einer der beliebtesten Plätze der Stadt, es gibt hier die unterschiedlichsten Museen, Büros, Gastronomie. Für eine Millionenstadt wie Wien ist es hier im MuseumsQuartier ziemlich grün – auch deshalb zieht es viele Besucher:innen in den Innenhof des Areals. Was aber macht man sonst so als Stadtmensch, wenn man hin und wieder etwas Grünes sehen will?

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Was nimmst du mit, wenn du aus dem Wald zurückkommst?

Jasmin: Einen sehr friedvollen, ruhigen, duftenden Eindruck. Für mich duftet es, und zwar für alle Sinne. Es wird alles aktiviert, und dadurch ist der Wald ein Ruhepol, wo ich einfach auch mal meine Gedanken schweifen lassen kann und einfach den Vögeln lausche, ich liebe das. Wenn der Wind durch die Blätter fährt, wie hier jetzt. Die Geräusche, aber auch die Düfte – der von feuchtem Boden zum Beispiel, in einem Wald, wenn es gerade geregnet hat. Das macht einen ganz eigenen Geruch, den ich stark mit Natur verbinde. 

Vielleicht macht man sich zunächst einmal keine Sorgen, die Digitalisierung unserer Tage hilft. Social Media, vor allem Instagram, ist voll von schönen Naturaufnahmen. Es gibt keine gesicherten Daten und detaillierten Untersuchungen, aber Natur, Umwelt und Reisen machen einen großen Teil der Videos auf Instagram aus. Es gibt Dutzende sogenannte „Wanderinfluencer: innen“, die problemlos an den 200.000 Follower:innen kratzen, und dann haben viele Tourismusverbände und sogar einige Hotels eine Reichweite, die in die Hunderttausende geht – durch die Bank mit schönen Landschaftsaufnahmen, das Forsthofgut in Leogang hat fast 1 Million Follower:innen, da müssen selbst Kochstars wie Paul Ivic sehr viele Rezepte verkochen.

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Wann warst du das letzte Mal im Wald?

Edward: Vor etwa sechs Monaten bin ich mit Freunden durch die Blue Mountains in Australien gewandert. Ich bin Australier, deshalb war ich in Österreich leider noch nie im Wald, aber ich würde gerne mal hin.

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Wären Sie gern mehr im Wald?

Marieflor (links): Oh ja, wenn er mehr in der Nähe wäre, dann ja. Im Winter ist es schon schwierig, aber im Sommer mehr, weil da kann man mit dem Fahrrad hinfahren. Das macht schon viel aus.

René: Ich gehe meistens dorthin, wo es Edelkastanien gibt. Die hebe ich auf und esse sie.

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Gibt es einen Wald, in den du gern zurückkehrst?

Mario: In meiner Heimatgemeinde Mürzsteg, da gibt es sehr viel Wald, der beginnt gleich 50 Meter vom Haus meiner Mutter. Da war in meiner Kindheit der Wald in unmittelbarer Nähe.

Diese kurzen digitalen Snacks halten Menschen, die lieber viel öfter in der Natur wären, als sie es sein können, etwas über Wasser. Aber sonst? Das klassische Fernsehen hilft, nicht umsonst ist „Universum“ im ORF seit Jahrzehnten ein Quotenhit, die einzelnen Folgen gehören traditionell zu den meistgesehenen Sendungen des Tages. Und auch YouTube ist voll mit Naturfilmen: Tage, nein, monatelang kann man sich durch Videos klicken, und zwar ganz egal, ob man lieber wackelige Hobbyaufnahmen von irgendwelchen Amateuren sieht, die beim Wandern die GoPro mitlaufen lassen, oder doch eher perfekt produzierte Dokumentationen aus den Werkstätten von BBC oder Discovery Channel. Natur ist einfach beliebt – sie liefert den besten Content, und zwar egal, ob der auf der anderen Seite der Welt passiert oder gleich neben der Haustür. Aber reicht uns das?

Bist du lieber alleine oder in Gruppen im Wald unterwegs?

Ines: Lieber alleine. Es fühlt sich ruhiger an. Der Wald bietet mir Ruhe an und ich mag’s, sie für mich aufzunehmen. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und verbinde mit Wald sehr viel Kindheit. Ich habe im Wald viel gespielt, alleine oder mit meinem Bruder. Also fühlt sich’s einfach wie „daheim“ an.

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„Ich mag am Wald die Stille, obwohl es im Wald ja eigentlich gar nicht so still ist. Es ist eher eine Stille im Vergleich zu meinem Alltag, und es ist auch die frische Luft“, sagt Ines, sie ist 27 und Stylistin, und sie sitzt jetzt auf einem der sogenannten „Enzis“, den charakteristischen Sitzmöbeln, die überall im Museums- Quartier herumstehen: „Man merkt es gar nicht, dass man im Wald ist, bis man es merkt. Es gibt einem so viel Energie, wenn man mal drauf achtet, was einem die Stadt entzieht. Ich freue mich dann über alles, was ich sehe. Pflanzen, Tiere, einfach alles.“

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Was seht, hört oder riecht ihr am liebsten im Wald?

Nicola: Ich rieche gern Tannennadeln. Sehen tu ich gern Waldtiere, und ich freu mich, wenn ich einen Specht klopfen höre, aber das passiert sehr selten.

Lukas: Ich bin am liebsten in der Nähe von einem Fluss oder Bach. Dort finde ich die Geräuschkulisse schön und ich genieße die Kühle.

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Was würdest du vermissen, wenn es keine Wälder mehr gäbe?

Thomas: Das wäre eine Katastrophe für mich persönlich. Ich brauche den Wald mindestens zwei Mal in der Woche, außer ich bin wirklich schwer krank. Für mich ist das Auftanken. Ich liebe im Wald das Rauschen. Das typische Waldrauschen. Im Herbst natürlich, wenn die Blätter auf den Boden fallen und ein leichter Wind durch den Wald geht, das ist dermaßen geil, das ist herrlich.

Dass Natur uns glücklicher, ausgeglichener macht, ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich erwiesen. Doch mittlerweile gibt es viele Möglichkeiten, dieses Naturerlebnis zu simulieren. Apps zum Beispiel, die alle erdenklichen Tiergeräusche in unseren Alltag einbauen. Und dann natürlich diverseste Virtual-Reality-Anwendungen, die uns die Natur ins Leben bringen, selbst wenn wir eigentlich auf dem Wohnzimmersofa hocken. Ein Forscher:innenteam der Universität Hamburg hat gemeinsam mit Ärzt:innen des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf kürzlich festgestellt, dass sich eine Waldumgebung selbst dann positiv auf die Stimmung und die kognitive Leistungsfähigkeit auswirkt, wenn man sie nur mit Virtual-Reality- Brillen erlebt hat. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Waldumgebung einen positiven Effekt auf die Stimmung hatte und die städtische Umgebung unabhängig von der Art der Präsentation die Stimmung störte“, so Fariba Mostajeran, Erstautorin der Studie und Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Human-Computer Interaction der Uni Hamburg. Darüber hinaus reichen Fotos der Umgebung schon aus, um Auswirkungen auf die Stimmung zu beobachten. Allerdings war der wahrgenommene Eindruck, sich wirklich im Wald zu befinden, bei den 360°-Videos deutlich höher. Nachsatz: „Es gibt somit Hoffnung, dass, auch wenn es gerade nur eingeschränkten Zugang zur Natur gibt, wir dank informatischer Methoden die negativen Effekte von Isolation, Quarantäne oder Urbanisierung reduzieren können.“

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Was würdest du vermissen, wenn es keine Wälder mehr gäbe?

Sergio: Es wäre so traurig und tragisch – eine Katastrophe. Als gäbe es keine Musik oder keine Kunst

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Mit wem würdet ihr mal wieder gern in den Wald gehen?

Barbara: Mit Falco.

Nicolas: Beyoncé! In High Heels (lacht). Als ich ein Kind war, bin ich oft mit meiner Mutter in den Wald gegangen – das war richtig entspannend, wir konnten ganz leicht miteinander reden. Das würde ich gerne wieder machen.

Wir müssen also gar nicht mehr in den Wald rausgehen, um die positiven Wald-Effekte zu spüren? Für Couch-Potatoes und Wandermuffel ist das durchaus eine erfreuliche Nachricht. Und auch für Menschen, die gern möglichst viele Erlebnisse in möglichst kurzer Zeit durchmachen. „Der Wald ist für mich Ruhe, er ist kühl, und ich find’s sehr angenehm, im Wald zu laufen. Der Boden ist weich, das ist sehr angenehm. Ich bin vom Land, da kenne ich natürlich den Wald, jetzt lebe ich aber in Wien und gehe weniger in den Wald, weil da sehr wenig Wald in der Nähe ist“, sagt Mario, er ist 54 und Leiter einer Strategieabteilung. Er hat jetzt in diesem Enzi aus Holz Platz genommen, der seit ein paar Tagen im MuseumsQuartier steht.

Wie wirkt sich das auf euch aus, wenn ihr in den Wald geht?

Andrea: Ich gehe lieber mit dir (schaut zu Hannes), aber ich glaube, du bist da anders.

Hannes: Wir sind oft gemeinsam im Bregenzerwald unterwegs, dort wurde zuletzt sehr viel Holz geerntet. An vielen Stellen sieht man dann diese großen Löcher, die die Bäume hinterlassen – und die Baumstämme, die im Wald liegen. Außerdem schätze ich die Ruhe bei einem Waldspaziergang. Das ist enorm entspannend. Andrea: Ich finde, es wird alles langsamer, und ich werde auch langsamer, es gibt viel zu schauen und zu riechen und zu hören.

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Die Österreichischen Bundesforste haben dieses Holzmöbel mitten in die Stadt gestellt. Wer auch immer gerade im MuseumsQuartier ist, kann sich in dieses Möbel setzen oder legen, und wer ein Handy dabei hat, kann dann auch ein bisschen Natur erleben. Der ÖBf-Holz- Enzi ist nämlich mit einem QR-Code versehen, der direkt zur App „RealiTree“ führt. Sie ist eine Virtual-Identity- Anwendung, die einen direkt in den Wald bringt und über die man Natur erleben kann. Man wird dadurch nicht nur schlauer, weil man alles über den Wald der Zukunft erfährt, sondern erholt sich auch, selbst wenn man nicht wirklich über den weichen Waldboden läuft. Und wenn es auch nur für ein paar Minuten ist. Die ja manchmal schon reichen.

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